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125 Jahre Ansichten von Otelfingen


Auch Otelfingen wird von den eifrigen und geschäftstüchtigen Verlegern nicht vergessen. Die erste bekannte und wahrscheinlich älteste erhalten gebliebene „Gruss aus Otelfingen“-Karte zeigt in der Technik der Farblithografie (Steindruckverfahren) eine gezeichnete und handkolorierte Dorfansicht vom Ellenberg Richtung Westen sowie Bilder von der Kirche von 1607 und dem Schulhaus Vorderdorfstrasse 40 von 1877. Sie stammt aus dem Verlag von Kissel & Rettner Zürich, und wurde am 10.12.1898 von Otelfingen nach Kloten ZH verschickt.

„Gruss aus Otelfingen“, datiert 10.12.1898, von Otelfingen nach Kloten, Bild- und Adressseite

In der Anfangszeit der Verwendung von Ansichtskarten war ausschliesslich die Bildseite der Textnachricht vorbehalten, während auf der Rückseite nur die Adresse stehen durfte und die Briefmarke aufgeklebt sein musste. Der Hinweis „Nur für die Adresse“ (siehe Adressseite der obigen Karte) verlangte es. Das Nichteinhalten dieser Vorschrift hatte ein Strafporto zur Folge. Sie wurde aber innert weniger Jahre von der Praxis überholt und wieder ausser Kraft gesetzt. Den kostbaren Platz wollten die Kartenschreiber maximal nutzen, und das Mitteilungsbedürfnis war oft gross. Vielfach wurde jeder freie Quadratzentimeter und möglichst klein und eng beschrieben. Es sind sogar Fälle bekannt, bei denen der Absender den zuerst horizonal verfassten Text noch zusätzlich vertikal, also um 90 Grad verdreht, überschrieben hat. Aus dieser Entwicklung heraus entstanden wenige Jahre später die Karten mit der hälftigen Teilung der Adressseite, wie sie heute noch üblich ist. Auch stand auf der Bildseite mit ihrer nach 1910 meist über das ganze Kartenformat gehenden Fotografie kaum mehr Platz für ein Text zur Verfügung.

Neben einem doppelt abgeschlagenen und gut lesbaren Abgangsstempel musste auch noch die Post am Ort des Empfängers einen Ankunftsstempel anbringen (siehe Adressseite der obigen Karte). Damit wollte man den Laufweg nachverfolgen und kontrollieren können, wie lange die Post unterwegs war. Aber auch diese Vorschrift fiel später wegen der massiven Zunahme der Menge an Briefen und Karten wieder weg und wurde oft nur noch durch kleine Poststellen bis ca. 1930 beibehalten. Diese hatten dafür offensichtlich noch mehr Zeit als die Postämter in den grösseren Orten. Und auffällig ist, wie schnell die Post damals unterwegs war. Aufgabe am Morgen und Ankunft am Nachmittag des gleichen Tages inklusive Zustellung an den Empfänger ist häufig zu sehen. Auch wenn die Distanz zwischen Absende- und Ankunftsort deutlich mehr als 100 Kilometer betrug.

Kurz nach 1900 erschienen weitere Lithografiekarten von Otelfingen, die in den Dorfläden zu einem Preis von 20 Rappen verkauft wurden. Die Handlungen von Jakob Schlatter am Friedhofweg 2, Johanna Wyss im Steinhof, Heinrich Schlatter zum Consum an der Kirchgasse 2 und die Landwirtschaftliche Konsumgenossenschaft Otelfingen und Umgebung an der Vorderdorfstrasse 36 gaben sogar im Eigenverlag Karten heraus. Bis heute sind vier Lithografiekarten von Otelfingen bekannt. Ab 1903 tauchen erstmals auch schwarz-weisse und handkolorierte Fotoaufnahmen auf. Zudem wurden durch professionelle Fotografen private Ansichtskarten hergestellt, die in der Regel das eigene Haus und teilweise dessen stolze Bewohner zeigen. Meist gab es hier aber keinen gedruckten Hinweis auf den Ort des Bildes, und die Ansichtskarten wurden nur für den persönlichen Gebrauch des Hausbesitzers verwendet. In den Verkauf gelangten sie nicht und sind deshalb äusserst selten. Eine Besonderheit sind die verschiedenen Doppelkarten (28 x 9 cm) um 1910, die ein Dorfpanorama zeigen oder jene von der überschwemmten Furttalebene von 1918.

Bis 1910 dürften ungefähr 30 verschiedene Ansichtskarten von Otelfingen erschienen sein. Die Zahl symbolisiert das Interesse, welches dem neuen und preisgünstigen Kommunikationsmittel „Ansichtskarte“ entgegengebracht wird. Mit den Karten werden oft kurze Informationen übermittelt, z.B. dass man am nächsten Samstag mit dem Ein-Uhr-Zug zu Besuch komme, die Mutter dem Sohn frische Socken und Unterwäsche (und lieber noch ein Fresspaket) in die Rekrutenschule schicken solle, in diesem Kaff keine anständige Ansichtskarte erhältlich sei oder dass sich auf dem Bahnhof Otelfingen ein Zugunglück ereignet habe. Die grosse Nachfrage kann auch auf einer Karte von 1911 nachgelesen werden, mit welcher ein Otelfinger Ladenbetreiber (wahrscheinlich die Landw. Konsumgenossenschaft) bei einer Druckerei 1000 Stück mit dem gleichen Sujet (eine Dorfansicht von Osten her im Doppelformat 28 x 9 cm) bestellt. Bei der damaligen, weitgehend bäuerlichen Bevölkerung von ca. 400 Einwohnern ist das eine Riesenmenge. Neu kommen ab zirka 1930 auch Flugaufnahmen des Dorfes hinzu.

In der vorliegenden Sammlung befinden sich Stand 2024 mehr als 340 verschiedene Ansichtskarten von Otelfingen. Aufgeteilt nach dem Jahrzehnt ihrer Ausgabe ergibt sich folgende Verteilung:

Diagramm Jahre

Diese Zahlen zeigen das vor dem 2. Weltkrieg grosse Interesse an neuen Ansichtskarten mit anderen Sujets. Ohne die Häuserserien von 1953 und 1961 erscheint aber nach 1939 im Durchschnitt nicht mal mehr eine Ansichtskarte pro Jahr. Das immer mehr aufkommende Kommunikationsmittel „Telefon“ ersetzt das Verschicken von schriftlichen Nachrichten. Der Sammler schätzt, dass für Otelfingen vielleicht weitere 30 % (= zirka 70 Stück) aus dem ganzen Zeitraum von 125 Jahren existieren, eventuell sogar mehr, von denen aber in der Zukunft nur noch vereinzelte Exemplare auftauchen werden. Der Rest ist wahrscheinlich unwiederbringlich verloren gegangen.

Das Aussehen veränderte sich im Verlauf der Jahre immer wieder. Die ersten Ansichtskarten zeichneten sich durch liebevoll komponierte und detailgetreue Bilder, Dekorationen und Kolorierungen aus. Wahrscheinlich dienten dazu Fotografien als Vorlage. Mit dem vermehrten Aufkommen der Bildtechnik verflachte jedoch der Gestaltungswille zusehends – die Massenproduktion hatte eingesetzt. Immer mehr stand ein einzelnes Motiv im Vordergrund, und die Mehrfachbilder verschwanden zusehends. Ein weisser Rand um das schwarz-weisse Bild gehörte lange Zeit zum Standard, und vereinzelt wurden Karten im bräunlichen „Chamois“-Farbton herausgegeben. Auch ein Büttenrand (unregelmässiger Wellenschnitt des Randes) gehörte während einigen Jahren zum Zeitgeist.

Auffällig in der Sammlung ist die unterschiedliche technische Qualität der Bilder und Ansichtskarten. In den ersten Jahrzehnten ist das noch teilweise der eingeschränkten Foto- und Drucktechnik und den Amateuraufnahmen zuzuschreiben. Aber auch später sieht man viele Mängel wie unter- oder überbelichtet, schief kopiert, krumm und nicht rechtwinklig zugeschnitten, Fremdkörper auf dem Negativ und nachlässige Ortsbeschriftungen. Dies dürfte eine Folge des hohen Wettbewerbs- und Zeitdruckes sein, dem die Fotografen, Druckereien und Verlage unterworfen waren. Abgesehen von wenigen handkolorierten Karten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen Farbaufnahmen erst in den 70er-Jahren. Das Format wechselte ebenfalls. Bis ungefähr 1955 verwendete man fast ausschliesslich die Abmessungen 14 x 9 cm. Nachher vergrössern sich die Aufnahmen auf 15 x 10,5 cm (= DIN A6), und die allerneuesten Ausgaben von 2022 weisen sogar die Dimensionen 17 x 12 cm auf.

Der Autor hat bewusst darauf verzichtet mit Hilfsmitteln der Computertechnik auffällige Merkmale wie Vergilbungen, verschmierte Stempelfarben, Knicke, Verschmutzungen, Kaffeeflecken, Beschädigungen, Bestossungen und Risse zu eliminieren. Die Karten sollen einen authentischen Eindruck geben von diesen über Jahrzehnte erhalten gebliebenen Zeitdokumenten.

Eine besondere Stellung nehmen die 119 Ansichtskarten der Serien von 1953 und 1961 ein. Professionelle Fotografen besuchten damals die Dörfer, darunter auch Otelfingen und lichteten viele Wohnhäuser und öffentliche Gebäude ab. Die entwickelten Bilder boten sie als Ansichtskarten den Hausbesitzern oder Mietern zum Kauf an. Das gleiche Vorgehen war in den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit Aufnahmen vom Helikopter aus zu beobachten, dort jedoch nicht als Ansichtskarte, sondern als grossformatiges, gerahmtes (und teures) Farbbild. Sehr wenige dieser Ansichtskarten von 1953 und 1961 sind jedoch heute auf dem Sammlermarkt zu finden, weil sie nie in den öffentlichen Verkauf gelangten (zum Beispiel in den Dorfläden oder Restaurants) und auch keine Orts- und Objektnamen aufweisen. Möglicherweise befinden sich aber einzelne Exemplare heute noch im Eigentum der Familie des damaligen Liegenschaftsbesitzers. Umso wertvoller ist es, dass der Dorfhistoriker Dr. Alfred Güller (1915 – 1991) nach deren Erscheinen jeweils die ganzen Otelfinger-Serien von 1953 und 1961 pauschal aufkaufte und sie so der Nachwelt erhalten geblieben sind.

Es liegt in der Natur der Sache, dass oft die gleichen und vermeintlich attraktiveren Gebäude und Sujets abgebildet wurden (unter anderen Kirche, Untere Mühle, Schulhäuser, Bahnhof und die Restaurants Bahnhof, Brauerei, Frohsinn und Höfli). Und dass andere, nicht weniger interessante Objekte links liegengelassen oder vergessen wurden. Sogar in den Grossserien von 1953 und 1961 fehlen immer wieder Häuser, die es eigentlich verdient gehabt hätten beachtet zu werden. Oder sie wurden von einer unansehnlichen Seite her aufgenommen. Andererseits finden sich einige Karten in der Sammlung mit Liegenschaften, die inzwischen nicht mehr existieren, durch Umbauten massiv verändert oder durch Neubauten ersetzt wurden. Manchmal muss man sogar genau schauen und studieren, welches Gebäude hier zu sehen ist.

Ansichtskarten aus Otelfingen sind auch historische Dokumente. Sie zeigen die bauliche Entwicklung und die örtlichen Veränderungen über mehr als ein ganzes Jahrhundert und nehmen damit einen nicht unwichtigen Platz in der sichtbar gemachten Geschichte der Gemeinde ein.

Hans Günter
2022/2024